©DOK.fest München

"Das Social-Media-Profil ist teil der eigenen Person geworden"

Maya Reichert ist Leiterin von DOK.education. Gemeinsam mit Digital2School und Globate hat sie das Medienkompetenz-Projekt "Was ist meine #Wirklichkeit?" ins Leben gerufen. Hier schildert sie, warum sie sich für mehr Medienkompetenz im Klassenzimmer einsetzt.

Globate-Redaktion

Donnerstag, 30. Mai 2019

Soziale Medien und Globalisierung sind Phänomene, die unser aller Alltag prägen, auch in den Medien sind sie omnipräsent. Warum ist es deiner Meinung nach wichtig, diese Themen auch noch ins Klassenzimmer zu holen? Nutzen Jugendliche Social Media anders als Erwachsene?

Junge Menschen nutzen Social Media definitiv anders als Erwachsene. Zum Beispiel sind der Gruppenchat und die Statusanzeige auf Whatsapp sowie dieselben Funktionen bei Instagram für junge Menschen selbstverständlicher Teil des Ausdrucks ihrer Individualität und Identität geworden. So wie junge Menschen über Kleidung und Haarstyle ein Bild von sich geben, so sind das Social-Media-Profil und die Statusmeldung Teil der eigenen Person geworden. Auch ihre Informationen holen sich junge Menschen in erster Linie über soziale Medien wie Youtube und Instagram und eben durch ihre Peergroup oder Youtuber, denen sie folgen. Fernsehen und Printmedien haben an Einfluss verloren. Und die fachliche und filmische Kompetenz der neuen Content-Creator im Netz ist gewachsen. Was von den herkömmlichen Medien gerade noch völlig unterschätzt ist: die Youtube-Beiträge gehen mittlerweile inhaltlich und filmsprachlich weit über Shopping Haul und Quatschvideos hinaus.

Wir bei DOK.education, dem ganzjährigen Bildungsprogramm des Internationalen Dokumentarfilmfestival München, fordern mit größtem Nachdruck, dieses Thema ins Klassenzimmer zu holen!

Schüler.innen an der Abschlussveranstaltung "Was ist meine #Wirklichkeit" am 14. Mai am DOK.fest München, ©DOK.fest München

Seit wir Erwachsene den ganz jungen Menschen ohne gross nachzudenken sehr früh schon unsere abgetragenen Smartphones in die Hand drücken und ihnen damit einen ungeschützten Zugang zum Internet geben – den wertvollen Seiten darin, aber auch den nicht jugendfreien oder gefährlichen – ist es wichtig im Unterricht Medienkompetenz und Bewusstsein für die Mechanismen und globalen Auswirkungen der sozialen Medien zu behandeln.

Im Bereich der Mittel- und Oberstufe liegt der Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von Digitalisierung und Globalisierung. Globalisierung als Schlagwort findet sich zigfach im Lehrplan – in Zusammenhang mit Digitalisierung und Social Media wurde diese Globalisierungsfrage bisher jedoch kaum als Unterrichtsthema für Schulen erkannt. Unser Projekt belegt, wie wichtig und wie wertig es angegangen werden kann.

Das ist jedoch nur die eine Seite. Der andere wichtige Punkt ist, dass man mit Apps und Filmen nicht nur manipulieren kann, sondern eben auch kreativ gestalten. Die Zukunft verändern, neue Wege finden, das Leben zu betrachten, darüber zu kommunizieren und Meinungen zu vermitteln. Die Apps, die sozialen Medien, die digitalen Geräte können dabei wertvolle Werkzeuge sein. Es lohnt sich, diese im Unterricht im lehrplanrelevantem Kontext kennenzulernen und anzuwenden, um nach Schulabschluss als mündiger Mensch der Welt mit weitem Horizont und klarem Blick begegnen zu können.

Filmvorführung THE CLEANERS am 14. Mai am DOK.fest München, ©DOK.fest München

Der Film THE CLEANERS beleuchtet die Arbeit sogenannter Content-Moderatoren. Bei DOK.education seid ihr Experten für Medienbildung mit Film. Was können Jugendliche durch Filme lernen? Und was kann man insbesondere durch den Film THE CLEANERS Neues lernen?

Der Film als historisch gewachsene und nach wie vor sehr massenwirksame Kunstform spielt eine zentrale Rolle für die Medienbildung. Der künstlerisch erzählende Dokumentarfilm spricht alle Sinne an und bildet somit ein mediales Gesamtkunstwerk, in dem Filmemacher.innen kreativ mit der Wirklichkeit arbeiten, um eine Geschichte zu erzählen. Aus den Möglichkeiten der Filmsprache ergibt sich eine unendliche Vielfalt an Erzähl- und Gestaltungsformen, mithilfe derer das Vorgefundene zu einem künstlerischen Ausdruck gebracht werden kann.

Durch die Analyse eines solchen Dokumentarfilms lernen Schüler.innen künstlerische Regieentscheidungen in Dokumentarfilmen nicht nur zu erkennen und zu benennen, sondern auch nach der dahinter liegenden Absicht zu fragen. Warum werden Ereignisse in Geschichtsform erzählt? Wie sind Bilder und Töne gestaltet, um uns eine bestimmte Atmosphäre näherzubringen? Und warum wird im Dokumentarfilm überhaupt gestaltet?

Still aus THE CLEANERS

Darüberhinaus vermittelt der Dokumentarfilm auch thematisch die Zusammenhänge zwischen kulturellen und gesellschaftlichen Perspektiven aus und auf unsere Welt. Der Film THE CLEANERS eignet sich hervorragend, um ihn im Unterricht filmsprachlich und gestalterisch zu analysieren – und zugleich berichtet er thematisch von einem brisanten Thema. Der Dokumentarfilm THE CLEANERS begleitet die belastende Arbeit sogenannter „Content-Moderatoren“, die von Plattformen wie Facebook, Youtube, Twitter etc. Fotos und Videos löschen. Die grossen Social-Media-Konzerne lagern diese Arbeit und damit auch die komplexen Entscheidungen, was gelöscht wird und was sichtbar bleibt, nach Manila aus. Parallel dazu zeigt der Film Beispiele, welche globalen Auswirkungen diese Entscheidungen auch politisch haben können. Interviews mit Mitarbeiter.innen dieser Firmen geben Einblicke, wie ausserdem die Algorithmen und Funktionsweisen dieser Plattformen grossen Einfluss darauf nehmen, was wir sehen, wenn wir online sind.

Das Projekt “Was ist deine #Wirklichkeit?” geht über die reine Auseinandersetzung mit einem Dokumentarfilm hinaus. Was lernen Jugendliche im Rest des Moduls? Was waren die Herausforderungen?

Es war das gemeinsame Anliegen aller Projektpartner, Fachkompetenz in einem lehrplanrelevanten Thema zu entwickeln, in diesem Fall die globalen Auswirkungen von Digitalisierung und Social Media. Die Schüler.innen bekommen einen tiefen Einblick in Bedeutung, Funktionen und Macht der sozialen Medien und werfen einen bewusst kritischen Blick auf die eigene Nutzung sozialer Medien.


Indem sie dann lernen, unterschiedliche sozial-mediale Tools anzuwenden und deren nutzergesteuerte Seite zu bedienen, entwickeln sie eine anwendbare Medienkompetenz. Unsere Vorgehensweise funktionierte dabei nach dem 4K-Model: Es waren Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und kritisches Denken gefragt. Daraus deutlich erkennbar ist, dass Sozialkompetenz ganz beiläufig auch noch geschult wird: Die Schüler.innen üben, mit sozialen Medien gemeinschaftlich an einer Umfrage zu arbeiten und miteinander zu kooperieren.

Die größte Herausforderung in diesem Projekt ist dabei noch immer die Infrastruktur des Internets an den Schulen. Meist hat nur ein Raum der Schule so stabiles Internet, dass es ausreicht, damit eine ganze Klasse mit eigenen Tablets darauf zugreifen kann. Ist dieser Raum belegt oder will man das Projekt auf dem Pausenhof auch anderen präsentieren, kommt man schnell an die Grenzen des Machbaren. Das muss sich jetzt tatsächlich ganz schnell ändern, wenn zukünftig digitaler Unterricht durchgeführt werden soll.


Und dann macht es Sinn, sich zu Beginn auch Expert.innen im Bereich der Digitalisierung an die Schule zu holen. Lehrkräfte fühlen sich teilweise noch nicht sicher genug in der selbstständigen Anwendung oder Vermittlung diverser digitaler Tools. Wir hatten im gesamten Projekt die lokale Digitalexpertin Christiane Winter von Digital2School an Bord. Und Schüler.innen müssen sich daran gewöhnen, mit den mobilen Medien diszipliniert umzugehen. Ein weisses Blatt plus Stift kann weniger ablenkend sein als ein neues Tablet mit vielen spannenden Apps. Den Zugang zum Internet sollten Lehrkräfte für ihre Klasse darum auch auf die Minute ab Arbeitsbeginn freigeben und auch wieder sperren können. Unter diesen Voraussetzungen arbeiten Schüler.innen dann jedoch digital sogar konzentrierter als im klassischen Frontalunterricht!

Die Aufgabe der Projektklassen war es unter anderem, eine Online-Umfrage zu erarbeiten und zu erstellen. Warum habt ihr euch für dieses Format entschieden? Was lernt man, indem man Fragen stellt, auch wenn man nicht unbedingt eine Antwort darauf erhält?

Selbsterstellte oder auch vorbereitete Umfragen aktivieren die Lernenden auf einfache Weise. Mit wenig technischem Aufwand können grosse Gruppen Fragen beantworten und gemeinsam auf Grundlage der Antworten diskutieren.
Um selbst eine Umfrage zu einem bestimmten Thema erstellen zu können, müssen die Jugendlichen ja vorher das Thema komplett durchdrungen haben. Anhand der Fragen und Antwortoptionen erkennt eine Lehrkraft, ob die Schüler.innen den Lerninhalt erfolgreich analysiert und verstanden haben und wie tief sie sich in die Materie eingearbeitet haben.

Und absolut erwähnenswert ist dabei auch die Motivation, die bei den Schüler.innen entsteht. Eine erfolgreich erstellte Umfrage, die auch noch real an der Schule oder mit einer grösseren Öffentlichkeit durchgeführt wird, macht das Thema nachhaltig interessant für andere und ermöglicht Diskussionen über die Umfrage-Ergebnisse.

Die Schüler.innen fühlen sich als wertvoller Teil der Gesellschaft, weil sie aktiv ein wichtiges Thema aufbereitet haben und damit andere nachweislich zum Nachdenken bringen.

Wie war das Echo, das ihr von den Schüler.innen und Lehrpersonen erhalten habt? Was konnten sie mitnehmen? Wie lautet dein persönliches Fazit? Hat sich deine Social-Media-Nutzung verändert?

Meine eigene konkrete Social-Media-Nutzung hat sich erstmal nicht verändert, nein. Aber mein Blick auf Inhalte, meine Haltung zu angezeigten Informationen hat sich definitiv geändert. Und das Bewusstsein für den globalen Zusammenhang macht einen als User ebenfalls wachsamer.

In diesen Punkten deckt sich meine Wahrnehmung im Wesentlichen auch mit dem Feedback der Projektklasse, die das Projekt sehr genossen zu haben scheint. Die Schüler.innen sind auf diesem Themengebiet zu Expert.innen geworden, können mit anderen diskutieren und haben digitale Apps angewendet, die sie auch für andere Themen und Gebiete nutzen können. Dasselbe gilt für die begleitende Lehrkraft.

Ich hoffe, dass wir auch durch den als Projektabschluss veranstalteten Medienkompetenztag geschafft haben, dass sich weitere Lehrkräfte diese Kompetenzen aneignen wollen und ähnliche Projekte mit ihren Schulklassen durchführen.

Die Projektklasse 10b präsentiert die von ihnen erarbeitete Online-Umfrage "Was ist meine #Wirklichkeit?" am DOK.fest München.

Was würdest du Lehrpersonen raten, die das Projekt „Was ist meine #Wirklichkeit?“ gerne selber im Unterricht durchführen würden?

Wir haben gemeinsam ein umfangreiches Begleitmaterial zum Projekt WAS IST MEINE #WIRKLICHKEIT? erstellt, das Lehrkräfte berät und ihnen ermöglicht, die eigene Erstellung einer neuen Umfragebasierend auf dem Film THE CLEANERS oder auch einem andere Themenfilm durchzuführen. Ausserdem stellen wir die im Rahmen des Schulklassenprojekts entstandene digitale Umfrage, die Lehrkräfte mit ihrer Klasse und deren eigenen Smartphones bzw. Tablets durchführen können, zur Verfügung.

Im fachgerecht aufbereiteten Begleitmaterial finden sich darüber hinaus Vorlagen, Arbeitsblätter und wichtige Informationen zur Vorbereitung des Arbeitens mit digitalen Medien. Dank der Plattform GLOBATE.org steht dieses Begleitmaterial sowie die von der Projektklasse erstellte Umfrage kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus findet man dort Filmausschnitte und Themen-Dokumentarfilme, die sich für weitere Umfrage-Erstellungen eignen.
Nur Mut! Man wird mit tollen Ergebnissen belohnt!

Umfrage: Was ist meine #Wirklichkeit?

Die Umfrage: Was ist meine #Wirklichkeit?

Um Zensur, Filterblasen und deren Einfluss auf unsere Meinungsbildung und Informationsvielfalt – kurz: auf unsere #Wirklichkeit – darum geht es in dieser spannenden Umfrage.
Sie wurde von Schülerinnen und Schülern des Theodolinden-Gymnasiums München entwickelt, die sich in den letzten Wochen intensiv mit Thema auseinandergesetzt haben.

Sag uns, was du denkst!
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Globate-Redaktion
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